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Neuanfang mit Ende vierzig 21. März 2023

Neuanfang mit Ende vierzig

Julia Müller hat im September 2022 ihre Ausbildung zur dipl. Pflegefachfrau HF abgeschlossen. Das Besondere daran: Sie ist 56 Jahre alt. Ihre berufliche Neuorientierung startete sie mit Ende vierzig. Lernen in fortgeschrittenem Alter sei kein Problem, sagt sie: «Wenn das Interesse da ist, dann lernt es sich leicht.»

Du hast mit Ende vierzig eine Zweitausbildung in Angriff genommen. Wie kam es dazu?

Genau genommen handelte es sich bei der Ausbildung zur Fachfrau Gesundheit (FaGe) um meine Erstausbildung. Ich hatte in jungen Jahren meine Lehre als Arztgehilfin geschmissen und mir Fachwissen – mit Ausnahme eines Handelsschuldiploms – immer  mit «learning on the job» angeeignet. Ich hatte also in fortgeschrittenem Alter noch etwas nachzuholen, was ich als junger Mensch verpasst hatte (lacht). Ein Neueinstieg ins Arbeitsleben drängte sich bei mir auf, als meine zwei Söhne älter wurden. Da ich schon als Mädchen den Wunsch gehegt hatte, im Pflegebereich zu arbeiten, sagte ich mir «Wieso nicht?» und bewarb mich in einem Altersheim. Ich wurde eingestellt. Eine Ausbildung als Pflegehilfe legte man mir aber nahe.


War das der Startschuss für den Wunsch nach mehr?

Ja. Ich war enthusiastisch, wollte lernen und mich weiterentwickeln. So reifte der Entschluss, eine Ausbildung zur FaGe anzugehen.


Wie konntest du diese Jahre mit dem tiefen Lehrlingslohn finanziell überbrücken?

Eine berechtigte Frage. Ich hatte das Glück, dass mir der Arbeitgeber, bei dem ich die Lehre absolvierte, einen Mindestlohn bezahlte. Aber als ich die Zusatzausbildung zur Pflegefachfrau HF machte, musste ich tatsächlich über drei Jahre hinweg mit 1000 bis 1500 CHF pro Monat auskommen. Ohne finanzielles Polster wäre dieser Ausbildungsweg undenkbar gewesen.


Bei Beginn deiner Lehre hatte dein Sohn seine bereits abgeschlossen. War das nicht speziell?

Natürlich. Anfänglich begegnete man mir in der Berufsschule etwas misstrauisch. «Wer ist das denn?», werden sich die Jugendlichen gedacht haben. Eine junge Frau kam am ersten Tag auf mich zu und fragte mich: «Bisch du nöd s’Mami vom Nicolas?» Sie war mit ihm zur Schule gegangen (lacht).


Hattest du keine Mühe, dich bei den Jungen zu integrieren?

Nein, gar nicht. Als Mutter von Kindern im ähnlichen Alter hatte ich ein grosses Verständnis für ihre Lebenswelt. Der Austausch war bereichernd. Die Jugendlichen konnten von mir und meiner Lebenserfahrung profitieren. Ich hingegen konnte mir eine grosse Scheibe ihrer Unbeschwertheit abschneiden.


Du hast deine Lehre in der Langzeitpflege absolviert und danach ans Akutspital gewechselt.

Genau. Über meine Berufsschulkolleginnen erfuhr ich viel über die Arbeit im Spital. Der Wechsel reizte mich. Mir wurde aber von einigen Seiten davon abgeraten. Die pflegerischen Tätigkeiten in der Langzeitpflege unterscheiden sich wesentlich von denjenigen im Akutspital. Trotzdem folgte ich meinem Wunsch. Ich bewarb mich beim Spital Uster, zu dem ich eine spezielle Bindung hatte. Zum einen kam ich hier zur Welt, zum andern kannte ich das Spital durch das Krebsleiden meiner Mutter, das hier behandelt wurde.


Der Wechsel gelang!

Ja. Aber er forderte mich auch entsprechend. Mein erstes Jahr in der Chirurgie war wie ein viertes Lehrjahr.           


Und doch hast du eine weitere Ausbildung obendrauf gepackt.

Ich wusste eigentlich schon von vornherein, dass ich nicht FaGe bleiben wollte. Durch meine Arbeit verspürte ich den Wunsch, noch mehr Verantwortung zu übernehmen. Als diplomierte Pflegefachfrau steuert man den Pflegeprozess und definiert mit den Patientinnen und Patienten sowie ihren Angehörigen Massnahmen und Ziele. Da wollte ich hin.


Du warst damals bereits über 50 Jahre alt. Ist es nicht so, dass man am einfachsten lernt, wenn man jung ist?

Ich kann das so nicht bestätigen. Wenn man topmotiviert und interessiert ist, dann lernt man auch gerne und gut. Mir ging die Ausbildung leicht von der Hand. Ich investierte aber auch viel und wollte richtig abliefern. «Auch 80 % sind ausreichend, Frau Müller!», pflegte einer meiner Lehrer immer wieder zu sagen.


Inzwischen bist du dipl. Pflegefachfrau HF. Wie fühlt sich das an?

Einerseits grossartig. Andererseits auch anspruchsvoll. Sozusagen über Nacht erhält man die Verantwortung, die man gesucht hat. Es ist aber nicht nur diejenige für die Patientinnen und Patienten. Man ist auch für seine Mitarbeitenden verantwortlich. Das ist nicht ohne, wenn man mit einer Person eingeteilt ist, die noch am Anfang ihrer Ausbildung steht. Vor allem, wenn man den Anspruch an sich selbst hat, es richtig gut zu machen.


Hast du bereits ein weiteres Ziel vor Augen?

Hm – nun ja, ich könnte mir schon vorstellen, noch eine Weiterbildung anzuhängen. Aber bestimmt nicht heute oder morgen. Vorerst möchte ich einfach arbeiten, meine Kompetenzen erweitern und Erfahrung sammeln. Und natürlich auch etwas Geld zur Seite legen. Ich bewundere Kolleginnen und Kollegen mit viel Berufserfahrung und habe manchmal Angst, dass mir die Zeit davonläuft, da ich bereits 56 Jahre alt bin. Aber eins nach dem andern.


Dann hoffen wir, dass du dem Spital Uster lange erhalten bleiben wirst!

Da sehe ich keine Gefahr. Ich liebe nicht nur meinen Beruf, sondern auch das familiäre, übersichtliche Spital Uster. Herausfordernd sind jedoch die grosse Arbeitsbelastung durch das fehlende Personal im Gesundheitswesen und der Kostendruck, dem die Akutspitäler unterliegen. Ich hoffe, dass ich dem gewachsen sein werde und mir meine grosse Motivation und Freude am Beruf langfristig erhalten kann. Emotional hänge ich sehr am Spital Uster. Ich arbeite heute in derselben Abteilung, wo meine Mutter 2017 gestorben ist. Mir gefällt der Gedanke, dass ihr Geist mich bei der Arbeit begleitet.   

Text: Sarah Buob Headerbild: Sarah Buob