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Wenn die Zuversicht weit weg scheint 09. Juni 2022

Wenn die Zuversicht weit weg scheint

Gibt es sinnstiftende Tätigkeiten auch im Alter? Diese Frage stellen sich viele. EXIT-Mitglied Gerhard Zimmermann, 87-jährig, engagiert sich seit vielen Jahren als freiwilliger Helfer im Spital Uster. Er besucht vor allem Menschen, die keine Angehörigen mehr haben.

Gerhard Zimmermann

Gerhard Zimmermann

Freiwilliger am Spital Uster

Heute erwartet mich, gemäss Einsatzplan, im Zimmer 310 ein älterer Herr. Vor drei Wochen wurde er als Notfall eingeliefert. Er ist mein ältester Patient, nach ihm folgen noch vier weitere. Ich klopfe an die Tür, öffne sie und stelle mich vor. Der Mann, ungefähr 85 Jahre alt, wirkt sehr traurig. Sein Blick schweift gedankenverloren umher, sein runzliges Gesicht ist bleich. Es berührt mich, wie sich in seinen Augen Unsicherheit und Kummer widerspiegeln. Er spricht mit mir über seine Sorgen und Ängste. Am liebsten würde er – so meint er – den direkten Weg zum Himmel nehmen. Schade! Das Gespräch wird durch die Arztvisite unterbrochen. Der Patient hört dem Arzt aber nicht wirklich zu und redet weiter. So wichtig die medizinische Hilfe auch ist, manchmal steht der Trost für die Seele im Vordergrund.


«Bald brauchen Sie diese Pillen nicht mehr»

«Meine Frau», erzählt er, «mit der ich alt werden sollte, wurde unversehens sehr krank. Sie ist vor kurzem gestorben.» Die Krankenschwester kommt und bringt die Medikamente. «Riecht es in meinem Zimmer nach dem Tod?» fragt er sie unvermittelt. «Nein, nein, schon bald brauchen Sie diese Pillen nicht mehr und als 85-Jähriger haben Sie noch einige Jahre vor sich.» Kurz huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Er spricht weiter von den Plänen, die er mit seiner Frau hatte und die er nun in seiner letzten Lebensphase nicht mehr umsetzen kann. Plötzlich ringt er nach Luft und seine Augen füllen sich mit Tränen: «Alles verändert sich so rasend schnell und wird immer schwieriger. Es fühlt sich an, als würde sich die Welt auf einmal anders drehen.»


Schon klopft wieder jemand an seine Tür. Es ist der Physiotherapeut. Der alte Mann sagt zu ihm: «Heute habe ich keine Lust. Ich bin zu traurig.» Ein paar Minuten später rafft er sich wieder auf und spricht weiter: «Wissen Sie, mein Kummer lässt sich nicht einmal mit Schnaps lindern. Nach dem Läuten des Totenglöckleins ist alle Gemeinsamkeit und alle Verbundenheit dahin. Die Zuversicht scheint mir unendlich weit weg zu sein. Meine Frau und ich können nie mehr zusammen singen, schweigen, träumen. Ich glaube, es gibt nichts, was mehr schmerzt, als ein Abschied für immer von jenen, die man liebt.»


Freiwilligenarbeit hat eine starke Wirkung

Man muss kein Hellseher sein, um zu wissen, wie schwer alles wird, wenn der alte Mann wieder allein zu Hause in seiner Wohnung ist. Niemand klopft mehr an seine Haustür. Fast macht es den Anschein, als rennen die Mitmenschen nur dem Geld oder dem Vergnügen nach. Die biblische Aussage: «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst» scheint völlig vergessen. Der Briefträger deponiert das Paket vor der Tür, die Eierfrau stellt das Gewünschte wortlos in den Briefkasten.


Doch plötzlich hört der alte Mann die Türglocke. Er strahlt vor Freude und öffnet gespannt die Tür. EIne Frau mittleren Alters lächelt ihn vertraut an erklärt ihr Kommen. Sie gehört dem Besucherkreis der Gemeinde an, der alleinstehenden älteren Menschen mit Rat und Tat zur Seite steht und gern ein wenig Zeit mit ihnen verbringt. Der alte Mann ist glücklich, wieder eine Zuhörerin für seine Lebensgeschichte gefunden zu haben. Geteiltes Leid ist bekanntlich halbes Leid. Die beiden führen ein intensives Gespräch. Ab sofort wird ein solches Treffen einmal in der Woche vereinbart. Gemeinsam suchen sie einen Weg zu mehr Selbstständigkeit, zu neuer Hoffnung und Lebensfreude. Am Gelingen dieser Wünsche wollen wir nicht zweifeln.


Während den bald zehn Jahren, die ich als Freiwilliger im Spital arbeite, habe ich viele solche einsamen Menschen getroffen. Bekannterweise wird im Spital geheilt, gelitten, gehofft, geboren und gestorben. Die Freiwilligenarbeit kann dabei helfen, Verzagte aufzurichten, Traurige zu trösten, Ängstliche zu ermutigen und Schwache zu stärken. Auch auf mich hat diese Tätigkeit eine starke Wirkung. Wenn ich am Abend mit dem Zug nach Hause fahre, könnte ich manchmal vor Freude jauchzen und singen.

Text: Gerhard Zimmermann Headerbild: Meinrad Schade